Die schutzlose Lage nach § 177 StGB – Ein unterschätzter Strafbarkeitsrisiko im Sexualstrafrecht
Die Vorschrift des § 177 Strafgesetzbuch (StGB), insbesondere nach der Reform des Sexualstrafrechts im Jahr 2016, hat in der anwaltlichen Praxis an erheblicher Bedeutung gewonnen. Ein zentrales Tatbestandsmerkmal, das immer wieder Gegenstand strafrechtlicher Auseinandersetzungen ist, stellt die sogenannte „schutzlose Lage“ dar. Wer sich mit Vorwürfen wegen sexueller Übergriffe konfrontiert sieht, ist gut beraten, frühzeitig zu verstehen, was dieses Merkmal bedeutet – und welche Risiken damit verbunden sind.
Was bedeutet „schutzlose Lage“ im Sinne des § 177 StGB?
Nach § 177 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen vornimmt. Absatz 2 erweitert diesen Grundtatbestand und stellt insbesondere auch das Ausnutzen einer schutzlosen Lage unter Strafe.
Eine „schutzlose Lage“ ist nach der Legaldefinition zwar nicht ausdrücklich beschrieben, jedoch in der Rechtsprechung und Kommentarliteratur präzise umschrieben. Sie liegt vor, wenn das Opfer der sexuellen Handlung schutzlos ausgeliefert ist, weil es objektiv nicht in der Lage ist, sich gegen die Handlung zu wehren oder Hilfe herbeizurufen. Die schutzlose Lage muss dabei nicht zwingend durch den Täter verursacht worden sein, sondern genügt auch dann, wenn sie bereits vorlag und vom Täter bewusst ausgenutzt wurde.
Nach Fischer setzt die Annahme einer schutzlosen Lage voraus: „dass das Opfer gegenüber der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist. Einwirkungen können Handlungen sein, mit denen sexuelle Handlungen oder ihre Duldung erzwungen werden könnten, gegen die im konkreten Fall ein Schutz erforderlich wäre und deren Möglichkeit das Opfer abhalten kann, Widerstand zu leisten“ (Fischer, § 177 Rn. 88).
Typische Konstellationen in der Praxis
Schutzlose Lagen entstehen häufig aus der konkreten Umgebungssituation oder dem Zustand der betroffenen Person. Klassische Beispiele sind:
- Eine Person ist nachts allein an einem abgelegenen Ort wie einem Park oder einer Tiefgarage.
- Die betroffene Person befindet sich mit dem Täter in einer abgeschlossenen Wohnung ohne Fluchtmöglichkeit.
- Starke Alkoholisierung oder Drogeneinfluss verhindern die Abwehrreaktion.
- Eine körperliche oder psychische Einschränkung liegt vor.
- Keine hilfeleistenden Dritten sind erreichbar oder anwesend.
All diesen Fällen ist gemein, dass sie eine massive Einschränkung der Schutz- und Widerstandsmöglichkeiten der betroffenen Person darstellen. Das Opfer ist in diesen Situationen potenziellen Einwirkungen des Täters ausgeliefert – selbst wenn keine physische Gewalt ausgeübt wird.
Hierzu führt Fischer aus: „Eine Zwangswirkung einer ‚Lage‘ kann nur bestehen, wenn eine Person der Wirkung einer potentiellen Gewalthandlung ausgeliefert ist, durch die sexuelle Handlungen oder Duldungen erzwungen werden könnten“ (Fischer, § 177 Rn. 90).
Objektive und subjektive Voraussetzungen
Damit eine Verurteilung wegen sexuellen Übergriffs im Zusammenhang mit einer schutzlosen Lage erfolgen kann, müssen sowohl objektive als auch subjektive Voraussetzungen erfüllt sein.
Objektiv muss es tatsächliche Umstände geben, die die Möglichkeit des Opfers, sich zu entziehen oder Hilfe zu rufen, im Vergleich zu durchschnittlichen sozialen Situationen wesentlich herabsetzen. Dazu zählen etwa:
- Einsamkeit des Ortes
- Keine Fluchtmöglichkeit
- Abwesenheit schutzbereiter Dritter
- Alter und körperliche Konstitution
- Psychische Disposition des Opfers
Subjektiv muss der Täter die Situation erkannt haben – oder es hätte ihm zumindest auffallen müssen, dass sich die betroffene Person in einer schutzlosen Lage befindet. Ein Täter, der in fahrlässiger Unkenntnis handelt, ist insoweit straflos. Die Prüfung der subjektiven Tatseite erfolgt in der Regel durch Aussageanalyse, Zeugenaussagen und durch die Bewertung der Gesamtumstände – was für die Verteidigung von zentraler Bedeutung ist.
Warum das Strafbarkeitsrisiko häufig unterschätzt wird
Anders als in Fällen von körperlicher Gewalt oder Drohung, bei denen der Täter eine aktive Zwangswirkung erzeugt, genügt bei der schutzlosen Lage das bloße Ausnutzen der Situation. Das Strafbarkeitsrisiko liegt hier besonders darin, dass viele Konstellationen im Alltag ambivalent sind. Eine stille Situation zu zweit in einer Wohnung kann harmlos erscheinen – wird aber strafrechtlich relevant, wenn das Gericht annimmt, dass die betroffene Person nicht hätte fliehen können oder keine realistische Hilfe zu erwarten war.
Nach Fischer: „Das Opfer muss den Einwirkungen schutzlos ausgeliefert sein. Das ist dann der Fall, wenn aufgrund tatsächlicher Umstände die Möglichkeit der Person, sich Gewalteinwirkungen zu entziehen, gegenüber dem Durchschnitt sozialer Situationen wesentlich herabgesetzt ist“ (Fischer, § 177 Rn. 92).
Gerade diese Interpretationsspielräume bergen für Beschuldigte enorme Risiken, da auch unbeabsichtigte Missverständnisse oder retrospektiv als problematisch empfundene Situationen zur Anklage führen können.
Verteidigungsstrategien bei § 177 StGB
Wird jemand beschuldigt, eine sexuelle Handlung in einer Situation vorgenommen zu haben, in der das mutmaßliche Opfer schutzlos war, ist äußerste Vorsicht geboten. Unüberlegte Aussagen gegenüber Polizei oder Zeugen können im späteren Verfahren gegen den Beschuldigten verwendet werden – selbst dann, wenn keine Absicht bestand oder die Situation vollkommen anders erlebt wurde.
Ein erfahrener Strafverteidiger wird in diesen Fällen zunächst sämtliche Umstände der konkreten Situation rekonstruieren und überprüfen lassen, ob die objektiven Voraussetzungen der schutzlosen Lage tatsächlich vorlagen. Ebenso muss sorgfältig geprüft werden, ob der Mandant die schutzlose Lage erkennen konnte oder durfte.
Gerichte sind gehalten, bei dieser Prüfung nicht nur auf die Schilderungen des vermeintlichen Opfers zu vertrauen, sondern auch auf widerspruchsfreie Aussagen, belastbare Indizien und gegebenenfalls entlastende Beweismittel wie Chatverläufe, Zeugen oder Videomaterial abzustellen.
Die schutzlose Lage nach § 177 StGB ist ein scharfes Schwert im Sexualstrafrecht – und in der Verteidigungspraxis eine der komplexesten Fallgruppen. Beschuldigte sehen sich häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, ohne Einsatz von Gewalt oder Drohung einen sexuellen Übergriff begangen zu haben, weil sie eine Lage „ausgenutzt“ haben sollen. Die Bedeutung objektiver Umstände, die Frage des Erkennens und die Aussagepsychologie sind hier entscheidend. Eine frühe und professionelle Verteidigung ist in solchen Fällen unerlässlich.
Wichtiger Hinweis: Bei einem Ermittlungsverfahren wegen eines Sexualdelikts nach § 177 StGB – insbesondere wegen des Vorwurfs des Ausnutzens einer schutzlosen Lage – gilt: Schweigen ist Gold. Kontaktieren Sie unverzüglich einen Rechtsanwalt für Strafrecht. Ihre Verteidigung beginnt mit dem ersten Schritt – und mit dem richtigen Anwalt.