Einvernehmlichkeit bei Sexualdelikten unter Alkohol- und Drogeneinfluss

Bei Vorwürfen nach § 177 StGB (sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) steht die Frage der Einvernehmlichkeit im Zentrum der rechtlichen Beurteilung.

Wann liegt wirksame Einvernehmlichkeit vor?

Das 2016 reformierte Sexualstrafrecht folgt dem Grundsatz „Nein heißt Nein“ – nur ein klares „Ja“ ist somit rechtlich als Einwilligung anzusehen. Dieses „Ja“ muss nicht unbedingt verbal ausgedrückt werden, kann aber auch aus dem Gesamtverhalten hervorgehen.

Entscheidend ist: Die einwilligende Person muss zum Zeitpunkt der Einwilligung einwilligungsfähig sein.

Besonders komplex wird diese Beurteilung, wenn Alkohol oder Drogen im Spiel sind.

Einvernehmlichkeit unter Alkohol- und Drogeneinfluss

Das Gesetz schützt Personen, die aufgrund ihres Zustands nicht in der Lage sind, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern. § 177 Abs. 2 StGB nennt ausdrücklich den Fall, dass „der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern“. Dies trifft häufig bei starker Alkoholisierung oder Drogenintoxikation zu.

Ab wann ist die Einwilligungsfähigkeit eingeschränkt?

Anders als im Straßenverkehr gibt es bei der Einwilligungsfähigkeit keinen festen Promillewert oder eine definierte Grenze.

Die rechtliche Beurteilung erfolgt stets im Einzelfall und berücksichtigt unter anderem den Grad der Alkoholisierung oder Drogenintoxikation, die individuelle Alkohol- oder Drogentoleranz, das beobachtbare Verhalten vor, während und nach dem Vorfall. Außerdem die Fähigkeit zur Kommunikation und Willensbildung und das Bewusstsein und die Orientierung der Person.

Bei leichter Alkoholisierung bleibt die Einwilligungsfähigkeit in der Regel erhalten. Je stärker die Beeinträchtigung, desto eher kann die Einwilligungsfähigkeit eingeschränkt oder vollständig aufgehoben sein. Besonders problematisch sind Zustände, bei denen:

  • Die Person stark taumelt oder nicht mehr stehen kann
  • Die Sprache stark verwaschen oder unverständlich ist
  • Es zu Bewusstseinstrübungen oder zeitweisen Blackouts kommt
  • Die Person die Situation offensichtlich nicht mehr einschätzen kann
  • Eine deutliche Einschränkung der Wahrnehmung vorliegt

Wer trägt die Verantwortung?

Die rechtliche Verantwortung trägt derjenige, der sexuelle Handlungen initiiert oder durchführt. Er oder sie muss sicherstellen, dass die andere Person einwilligungsfähig ist und tatsächlich einwilligt. Das Gesetz verlangt dabei keine außergewöhnlichen Sorgfaltsmaßnahmen, aber eine grundlegende Prüfung.

Kann die andere Person klar kommunizieren? Versteht sie die Situation und deren Bedeutung und ist ihr Wille erkennbar und wurde er klar ausgedrückt?

Wer erkennt oder erkennen müsste, dass die andere Person aufgrund von Alkohol oder Drogen nicht mehr einwilligungsfähig ist, handelt potenziell strafbar, wenn er dennoch sexuelle Handlungen vornimmt.

Wenn beide Personen unter Einfluss stehen

Rechtlich besonders anspruchsvoll wird die Bewertung, wenn beide Beteiligte alkoholisiert oder unter Drogeneinfluss stehen.

Bei gleichmäßiger Beeinträchtigung beider Personen, die aber die Einwilligungsfähigkeit nicht aufhebt, kann grundsätzlich Einvernehmlichkeit vorliegen.

Bei deutlichem Ungleichgewicht in der Beeinträchtigung steigt hingegen das strafrechtliche Risiko enorm. Wenn eine Person erheblich stärker beeinträchtigt ist und dies ausgenutzt wird, kann § 177 StGB erfüllt sein.

In solchen Fällen kommt es auf eine detaillierte Betrachtung des Einzelfalls an, wobei das objektive Verhalten, Zeugenaussagen und gegebenenfalls medizinische Befunde eine entscheidende Rolle spielen.

Nachträglicher Bewertungswandel

Nicht selten kommt es vor, dass sexuelle Handlungen im alkoholisierten Zustand anders erlebt werden als im nüchternen Zustand. Eine im Nachhinein als unangenehm oder unerwünscht empfundene sexuelle Handlung ist jedoch nicht automatisch strafbar. Entscheidend ist die Situation zum Tatzeitpunkt.

War die Person zu diesem Zeitpunkt einwilligungsfähig und hat sie ihre Einwilligung erkennbar zum Ausdruck gebracht? Wurde die Einwilligung eventuell später widerrufen und wurde dies beachtet?

Die typische Beweissituation

Die Beweislage in Fällen von sexuellen Handlungen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss ist oft schwierig:

  • Der genaue Grad der Alkoholisierung ist im Nachhinein oft nicht mehr messbar
  • Erinnerungslücken (Blackouts) erschweren die Rekonstruktion des Geschehens
  • In vielen Fällen steht Aussage gegen Aussage
  • Zeugen sind oft ebenfalls alkoholisiert und damit in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt

Relevante Beweismittel in einem Verfahren wegen Vergewaltigung

In strafrechtlichen Verfahren können verschiedene Beweismittel eine Rolle spielen:

  • Aussagen der direkt Beteiligten
  • Zeugenaussagen über den Zustand beider Personen
  • Chatverläufe oder Nachrichten vor und nach dem Vorfall
  • Ärztliche Untersuchungen oder Blutentnahmen (falls zeitnah erfolgt)
  • Videoaufnahmen (z.B. aus Clubs oder öffentlichen Bereichen)
  • Aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit von Aussagen

Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen

In vielen Fällen steht Aussage gegen Aussage. Hier entscheidet oft die Glaubhaftigkeit der Aussagen. Das Gericht prüft dabei:

  • Die innere Widerspruchsfreiheit der Aussagen
  • Konstanz der Aussagen über verschiedene Vernehmungen hinweg
  • Detailreichtum und Anschaulichkeit der Schilderungen
  • Belastende und entlastende Elemente in den Aussagen

Rechtliche Verteidigungsstrategien

Bei Vorwürfen sexueller Übergriffe unter Alkohol- oder Drogeneinfluss kommen verschiedene Verteidigungsansätze in Betracht.

Einmal etwa der Nachweis der Einwilligungsfähigkeit. Die Verteidigung kann darauf abzielen, die Einwilligungsfähigkeit des mutmaßlichen Opfers zum Tatzeitpunkt nachzuweisen. Dies kann passieren durch die Rekonstruktion des Alkohol- oder Drogenkonsums, durch Aussagen von Zeugen zum Verhalten und Zustand oder durch Chatverläufe oder andere Kommunikation, die auf Orientierung und Bewusstsein hindeuten.

Ein weiterer Ansatzpunkt ist der Nachweis der Einvernehmlichkeit. Zentral ist oft der Nachweis, dass die sexuellen Handlungen einvernehmlich waren. Die kann z.B. durch die aktive Beteiligung des mutmaßlichen Opfers, eine erkennbare Zustimmung durch das Verhalten oder die Kommunikation vor, während und nach den sexuellen Handlungen geschehen.

Auch die Prüfung der subjektiven Tatseite kann eine Strategie sein. Für eine Verurteilung muss nachgewiesen werden, dass der Beschuldigte vorsätzlich handelte. Hatte er Kenntnis von der fehlenden Einwilligungsfähigkeit bzw. musste er die fehlende Einwilligungsfähigkeit erkennen? Gab es außerdem objektive Anzeichen einer Beeinträchtigung, die er hätte wahrnehmen müssen?

Präventive Maßnahmen und Handlungsempfehlungen um erst gar nicht in die Situation zu komme, eventuell wegen einer Vergewaltigung angezeigt zu werden:

  • Klare Kommunikation über Wünsche und Grenzen, idealerweise vor dem Konsum von Alkohol oder Drogen
  • Verzicht auf sexuelle Handlungen bei erkennbarer starker Beeinträchtigung des potenziellen Partners
  • Besondere Vorsicht bei unbekannten Personen, deren Konsumverhalten und Toleranz nicht eingeschätzt werden kann
  • Im Zweifelsfall Verzicht auf sexuelle Handlungen bis zu einem Zeitpunkt, an dem die Einwilligungsfähigkeit zweifelsfrei gegeben ist

Die Frage der Einvernehmlichkeit unter Alkohol- oder Drogeneinfluss gehört zu den komplexesten Bereichen des Sexualstrafrechts. Bei Vorwürfen nach § 177 StGB drohen erhebliche Strafen. Umso wichtiger ist es, in Situationen erhöhten Alkohol- oder Drogenkonsums besondere Vorsicht walten zu lassen.

Als spezialisierte Strafverteidiger bieten wir umfassende Beratung und konsequente Vertretung bei Vorwürfen im Bereich des Sexualstrafrechts. Sollten Sie mit einem entsprechenden Vorwurf konfrontiert sein, empfehlen wir dringend, frühzeitig rechtsanwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.