Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 StGB – Ein Leitfaden für Beschuldigte
Wenn Sie als Beschuldigter mit einem Vorwurf nach § 177 Abs. 6 StGB (Vergewaltigung) konfrontiert sind, ist es entscheidend, die rechtlichen Grundlagen zu verstehen. Dieser Artikel erläutert die objektiven Tatbestandsmerkmale der Vergewaltigung und die möglichen Nötigungssituationen, um Ihnen einen ersten Überblick zu verschaffen. Bitte beachten Sie: Dieser Artikel ersetzt keine individuelle Rechtsberatung durch einen Fachanwalt für Strafrecht, die bei solch schwerwiegenden Vorwürfen unbedingt eingeholt werden sollte.
Die objektiven Tatbestandsmerkmale der Vergewaltigung
Beischlaf im strafrechtlichen Sinne
Das Gesetz definiert den Beischlaf weiter als im allgemeinen Sprachgebrauch. Nach der Kommentierung von Fischer (69. Auflage, § 177 Rn. 120) liegt ein Beischlaf bereits dann vor, wenn das männliche Glied teilweise über den Scheideneingang bis zum Hymen eindringt.
Der Bundesgerichtshof geht sogar noch weiter und definiert den Beischlaf im strafrechtlichen Sinne als „eine ihrer Art nach zur Zeugung geeignete Handlung“ (Fischer, Rn. 121). Nach dieser Rechtsprechung liegt ein vollendeter Beischlaf bereits vor, wenn ein Kontakt mit dem Scheidenvorhof erfolgt (Fischer, Rn. 122).
Für Ihre Verteidigung bedeutet das: Die Strafbarkeit beginnt deutlich früher als viele Laien vermuten. Es muss kein vollständiges Eindringen und kein Samenerguss stattgefunden haben. Auch sind physiologische Voraussetzungen für eine tatsächliche Zeugung nicht erforderlich – entscheidend ist allein die Art der Handlung.
Dem Beischlaf ähnliche sexuelle Handlungen
Dem Beischlaf gleichgestellt sind ähnliche sexuelle Handlungen, die das Opfer besonders erniedrigen (Fischer, Rn. 126). Der Grundfall ist eine besonders erniedrigende sexuelle Handlung, unabhängig von ihrer Art.
Diese besondere Erniedrigung kann sich aus verschiedenen Faktoren ergeben:
- Art und Weise der Durchführung
- Dauer und Intensität der Handlung
- Begleitumstände der Tat
- Anwesenheit Dritter oder Dokumentation der Handlungen
- Demütigende verbale Äußerungen während der Tatbegehung
- Zwang zu ungewöhnlichen oder als erniedrigend empfundenen Praktiken
Wichtig für Beschuldigte: Die besondere Erniedrigung muss über das Maß hinausgehen, das mit einem sexuellen Übergriff ohnehin verbunden ist. Es bedarf einer zusätzlichen Komponente, die den Unrechtsgehalt erhöht. Die Bewertung erfolgt jedoch objektiv durch das Gericht, nicht allein nach dem subjektiven Empfinden des vermeintlichen Opfers.
Eindringen in den Körper
Das Eindringen in den Körper ist die Legaldefinition der Vergewaltigung. Nach Fischer (Rn. 130) umfasst dies:
- Die Einführung des Geschlechtsteils (Glied) bei vaginalem, oralem oder Analverkehr
- Die Einführung anderer Körperglieder (z.B. Finger)
- Die Einführung von Gegenständen
- Das Eindringen von Körperprodukten
Beachten Sie: Es muss ein tatsächliches Eindringen erfolgen, ein bloßes Berühren der Körperöffnungen reicht nicht aus. Allerdings ist bereits das Überwinden des natürlichen Widerstands der Körperöffnung ausreichend, ein tiefes Eindringen ist nicht erforderlich.
Besonders wichtig für Beschuldigte: Auch Handlungen, bei denen das vermeintliche Opfer gezwungen wird, an sich selbst penetrierende Handlungen vorzunehmen oder in den Körper des Beschuldigten einzudringen, können unter den Tatbestand fallen (Fischer, Rn. 130 und 132).
Die Nötigungssituationen gemäß § 177 StGB
Für eine Strafbarkeit nach § 177 Abs. 6 StGB muss eine der folgenden Nötigungssituationen gemäß § 177 Abs. 1-5 StGB vorliegen:
Gewalt (§ 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB)
Die Anwendung von Gewalt gegen das vermeintliche Opfer oder eine dritte Person. Unter Gewalt versteht man körperlich wirkenden Zwang durch die Entfaltung von Kraft oder durch sonstige physische Einwirkung, die nach ihrer Intensität geeignet ist, den entgegenstehenden Willen des Opfers zu überwinden.
Die Rechtsprechung stellt keine hohen Anforderungen an die Intensität der Gewalt. Bereits das Festhalten der Hände oder das Niederdrücken des Körpers kann ausreichen. Entscheidend ist die Überwindung eines physischen Widerstandes.
Drohung (§ 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB)
Die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben. Die Drohung muss sich auf ein empfindliches Übel beziehen und geeignet sein, das Opfer zu dem vom Täter gewünschten Verhalten zu bestimmen.
Die Drohung muss eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben beinhalten. Eine gegenwärtige Gefahr liegt vor, wenn der Eintritt des angedrohten Übels unmittelbar bevorsteht oder jederzeit eintreten kann und nur von der Willkür des Drohenden abhängt.
Ausnutzen einer schutzlosen Lage (§ 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB)
Das Ausnutzen einer Situation, in der das Opfer schutzlos dem Täter ausgeliefert ist. Eine schutzlose Lage ist gegeben, wenn das Opfer aufgrund der äußeren Umstände keine oder nur geringe Möglichkeiten der Gegenwehr oder der Flucht hat und auch nicht mit fremder Hilfe rechnen kann.
Beispiele:
- Abgelegene, menschenleere Orte
- Geschlossene Räume, aus denen kein Entrinnen möglich ist
- Situationen, in denen Hilferufe nicht gehört werden können
Überraschungselement (§ 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB)
Das überraschende Begehen der Tat. Die sexuelle Handlung wird so plötzlich und unerwartet vorgenommen, dass das Opfer keine Gelegenheit hat, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern.
Ausnutzen einer Lage mit Nachteilsbefürchtung (§ 177 Abs. 2 Nr. 4 und 5 StGB)
Das Ausnutzen einer Lage, in der das Opfer im Fall des Widerstands erhebliche Nachteile befürchtet. Dies kann bei besonders vulnerablen Personen oder in Abhängigkeitsverhältnissen der Fall sein:
- Arbeitsrechtliche Abhängigkeiten
- Therapieverhältnisse
- Unterbringungssituationen
- Betreuungsverhältnisse
Gegen den erkennbaren Willen (§ 177 Abs. 1 StGB)
Sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person. Der entgegenstehende Wille muss objektiv erkennbar zum Ausdruck gebracht worden sein, sei es verbal oder durch konkludentes Verhalten wie Weinen, Abwehren oder Wegstoßen.
Einwilligungsunfähigkeit (§ 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB)
Das Ausnutzen der Unfähigkeit des Opfers, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern. Dies kann vorliegen bei:
- Bewusstlosigkeit
- Schlaf
- Erheblicher Alkohol- oder Drogenintoxikation
- Geistiger Behinderung
- Schwerer psychischer Erkrankung
Der subjektive Tatbestand: Vorsatz
Für eine Strafbarkeit ist zudem erforderlich, dass Sie als Beschuldigter vorsätzlich gehandelt haben. Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale beziehen:
- Die sexuelle Handlung
- Das Eindringen in den Körper bzw. die dem Beischlaf ähnliche Handlung
- Das Fehlen eines wirksamen Einverständnisses
- Das Vorliegen einer Nötigungssituation
Bedingter Vorsatz (dolus eventualis) ist ausreichend. Dies bedeutet, dass Sie die Verwirklichung des Tatbestands zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben müssen.
In der Verteidigung kann daher oft der Irrtum über das Einverständnis des vermeintlichen Opfers eine wesentliche Rolle spielen. Hat der Beschuldigte irrtümlich angenommen, das vermeintliche Opfer sei einverstanden, kann ein sogenannter Tatbestandsirrtum vorliegen, der den Vorsatz ausschließt.
Rechtsfolgen und Strafrahmen
Bei einer Verurteilung nach § 177 Abs. 6 StGB droht eine Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. In besonders schweren Fällen, etwa bei Verwendung von Waffen oder gefährlichen Werkzeugen, kann die Strafe bis zu 15 Jahre Freiheitsstrafe betragen.
Neben der Freiheitsstrafe kann das Gericht weitere Maßnahmen anordnen:
- Führungsaufsicht
- Berufsverbote
- Eintragung ins erweiterte Führungszeugnis
- Präventive Sicherungsverwahrung in besonders schweren Fällen
Verteidigungsstrategien
Als Beschuldigter sollten Sie folgende Aspekte mit Ihrem Verteidiger besprechen:
- Tatbestandsmäßigkeit prüfen: Liegen alle objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale vor?
- Einverständnis des vermeintlichen Opfers: Gab es ein wirksames Einverständnis oder einen Irrtum darüber?
- Beweislage analysieren: Welche Beweismittel gibt es? Aussage-gegen-Aussage-Situationen sind häufig.
- Sachverständigengutachten: In komplexen Fällen können Glaubhaftigkeitsgutachten oder rechtsmedizinische Gutachten erforderlich sein.
- Verfahrenseinstellung: Unter bestimmten Umständen kann eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 153 ff. StPO in Betracht kommen.
Ein Strafverfahren wegen Vergewaltigung erfordert eine sachliche, fundierte und strategisch durchdachte Verteidigung. Dieser Artikel kann nur einen ersten Überblick geben. Für eine individuelle Beratung stehen wir Ihnen als spezialisierte Strafverteidiger gerne zur Verfügung.